Viel Trakl, viel Homoerotik, trotzdem nicht nur gut durchgekommen, sondern sogar bester Laune aus der Lektüre aufgetaucht. Wie war das möglich? Es ist wohl dem freien etwas störrisch stolzen Ton zuzuschreiben, geprägt von Viola, dem schlecht empfangenden Radio im gestrandeten Hiddenseer Bootsrestaurant Klausner, mit Haydn, Tschaikowsky und Wetterberichten, und von den eher unaufgeregten Wellen der Ostsee. Lyrische Bilder werden wie tote Füchse im Strand in genauen Beobachtungen von Restaurantdingen und der Inselnatur verscharrt, sie findet man erst später, und, wenn überhaupt, vielleicht auch mehr darunter. Doch zeichen-theoretische Analyse im Roman erklärt explizit die Funktion des Klanges der Stimme im Werk als Verräterin der Emotionen, der Authentiztät. Wir achten also auf die Stimme.
Doch zuerst die Geschichte. Verschiedene Inselhelden halten ihre die DDR müden Gäste unter der beseelenden Koordination des bereits ergrauenden feierlich ernsten Küchenhelfers Kruso von einer praktisch aussichtslosen Flucht über das Meer ab, indem sie eine alternative Form von Freiheit durch quasi improvisierte Gemeinschaft inszenieren. Im Banne Krusos und unter dem Eindruck der übrigen teils sehr gelehrten Crewmitglieder befreit sich langsam der junge Germanistikstudent Edgar, der nach dem Unglück seiner Geliebten zum Klausner gestoßen ist, von seiner Trauer, doch verfällt er gleichzeitig dem schönen inspirierenden Küchenkollegen, dessen ernster Art und trauriger Geschichte. Der aber sieht ihn ihm offenbar nur den Gehilfen, der ab und zu belohnt werden muss. Hier folgen einige sehr wenig lyrische “Frauengeschichten”.Dass zur selben Zeit die DDR in Ungarn, dann in Österreich und schließlich in Berlin durchlässig wird, bekommt deswegen Edgar gar nicht mit, genauso wenig, scheint es, wohl wegen seiner politischen Utopie, Kruso. Doch als sich dann die Insel entvölkert, beginnt Edgar nicht nur seine Rolle als ewiger Gehilfe ‚Freitag’ in Frage zu stellen, sondern auch die menschliche Hybris seines Robinson, vor allem, als ein -zwar unsympathischer- Kollege seinetwegen von Kruso ermordet zu sein scheint. Und erst als der schöne Ernste ihm nicht nur seine feierlichen Gedichte, sondern auch seinen ‚Ton’ überlassen will, entwickelt sich die Beziehung nach einer schrecklichen Konfrontation weiter, und reicht dann über den Tod des Robinson hinaus. Doch ist es eben nicht der hohe Ton mit den bedeutungsvollen Pausen, den Edgar als Erbe betrachtet, sondern ein von ihm frei interpretiertes Gelübde, sich nämlich um die Toten zu kümmern. Durch seine freie Treue rettet Edgar Jahre später wenigstens den Namen des einen ehemaligen Heimkindes und späteren – auch von Kruso verachteten- Küchengehilfen , über dessen Verschwinden und wahrscheinlichen Tod fast niemand getrauert hatte, vor dem Vergessen,
Seilers Roman hat eine klare Botschaft an den Leser: man prüfe den Ton, die Musik, die Stimme, darin verrät sich die Echtheit und damit die Glaubwürdigkeit des Inhalts. Ich glaube ihm gerne. Doch das scheint mir nicht genug. Ich will durchaus auch die in Worte verpackten Bilder auf ihre Echtheit und Überzeugungskraft in Bezug auf das Thema prüfen: also alte Füchse und Pferde, Meer, Mond, (gestrandete) Schiffe, (feststehender) Zirkus, kafkaesker Seiltanz, Gläser, Bücher, Musik, Radio. Tja,(geraubte) Freiheit? Höhlen, Keller, Treppen, Gräber, etwas aufdringliche schwarze Löcher, Wasserleichen: Tod? Sex? Kann stimmen. Hier wird der Leser wohl nicht überfordert. Und sollen Essensreste, merkwürdigen Seifen, Cremes und Haare tatsächlich das Thema Schuld durch die Emotion Ekel entwickeln? Sozusagen frei nach dem mundlosen dramatischen französischen Vorbild, welcher schockierende Bilder sprechen lassen wollte statt der Worte?
Reisefreiheit, sexuelle Freiheit, Freiheit zu Lieben, zu Sterben, zu Lesen, zu Denken, Freiheit den eigenen Ton, eigene Bilder zu finden, Angst, Wut, Trauer, Sterben, Mord, Machtmissbrauch, Schuld und Schuldgefühle, Sex, Liebe, Literatur, Wissenschaft, Politik, Familie, Freundschaft. Nur wenig wird sortiert. “Genau.” Aber es geht hier ja um den deutschen Buchpreisträger. Ich fürchte noch etwas sehr Wichtiges in diesem Bildungsroman verpasst haben. Ich lese wohl besser noch mal nach. “Warum nicht?”